Trauer kann man nicht auf eine feste Zeit beschränken. Es gibt jene Zeit der Trauer, in der wir aktiv trauern, in der wir uns an unsere lieben Verstorbenen erinnern und ihrer gedenken. Wir dürfen traurig sein, weil wir sie hier auf Erden verloren haben. Es gibt aber auch die Zeit, in der wir neue Wege gehen und lernen, mit unserer Trauer zu leben. Wenn wir diesen Weg gemeinsam gehen, können wir uns gegenseitig unterstützen, wobei jeder nur so viel zulässt, wie er bereit ist, zuzulassen.
Oft entsteht zwischen trauernden Menschen und Außenstehenden ein Kommunikationsproblem, denn keine der beiden Seiten weiß, wie sie auf die andere zugehen soll. Manchmal sind keine Wörter von Nöten, um zu trösten. Eine stille Umarmung kann hilfreicher sein als viele Worte, denn sie kann viel eher ein ernst gemeintes „Ich bin für Dich da!“ ausdrücken.
Oft warten Außenstehende, dass der Trauernde sich bei ihnen meldet. Aber wieso gehen wir nicht auf trauernde Menschen zu? Zuhören, richtig zuhören und keine Floskeln wie „Es wird schon wieder!“, „Es braucht alles nur seine Zeit!“, „Es ist schon so viel Zeit vergangen…“, „Du bist noch so jung, es wird ein neuer Mann in dein Leben kommen“, „Benjamin hätte nicht gewollt, dass Du Dich so hängen lässt!“ usw. Solche Sätze sind in der Trauer nicht produktiv, sondern führen nur dazu, dass sich der trauernde Mensch in seiner eigenen Welt verschließt.
Es wird nicht wieder alles gut, denn wir haben einen lieben Menschen verloren und müssen lernen, damit umzugehen. Hierzu möchte ich Euch gern ein paar Beispiele geben:
Wir müssen lernen, dass sein Frühstücksplatz für immer leer bleibt. Gestern saß er noch dort und hat gelacht, ehe ihn ein Unfall aus dem Leben riss. Ich möchte über ihn und über sein Leben reden, denn für mich stellte er die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft dar. Ich muss mich erst wieder in dieser Welt zurechtfinden, ohne sein Lachen und seine unterstützende Hand.
Wir müssen lernen, dass wir unseren weiteren Lebensweg ohne unsere Eltern gehen müssen, weil sie uns verlassen haben. Gibt es ein richtiges Alter, um die Eltern gehen zu lassen? Sie haben uns doch bis zu diesem Moment unser ganzes Leben lang begleitet, und jetzt sind wir verwaist. Kein Ratschlag mehr von Mama, kein gutes Wort mehr von Papa. Damit muss man erst einmal zurechtkommen.
Eltern verlieren ihr Kind durch eine Krankheit. Gern wären sie anstelle des Kindes gegangen, hätten den Schmerz auf sich genommen, den das Kind jeden Tag erleiden musste. Oft kommt Außenstehenden der Satz "Es war besser so, dein Kind muss jetzt nicht mehr leiden" über die Lippen. Natürlich sehen Eltern ihre Kinder nicht gern leiden, aber wer will sich dieses Urteil erlauben, dass es so besser gewesen ist? Die Eltern wollten ihr Kind aufwachsen sehen, seine Hochzeit erleben, sich über Enkelkinder freuen. Für viele Mütter und Väter bricht eine Welt zusammen, wenn der Mittelpunkt ihres Lebens nicht mehr da ist. Wie sollen sie weiterleben, wie sollen sie mit diesem Schicksal zurechtkommen, ohne daran nicht selbst zu zerbrechen?
Auch mein Leben ist ein Prozess, in dem ich zu lernen versuche, mit der Trauer umzugehen und mit ihr zu leben.
Vor 27 Jahren verlor ich meinen kleinen Bruder, den ich bis heute nicht vergessen habe. Ich konnte meine Trauer noch immer nicht richtig verarbeiten, lebe mit ihr, Tag für Tag, Nacht für Nacht, Jahr für Jahr, und noch immer vermisse ich ihn sehr. Heute stelle ich mir die Frage, was wohl aus ihm geworden wäre, wäre er nicht so jung gestorben. Warum wurde die Trauer damals totgeschwiegen? Warum wird in der eigenen Familie nicht mehr über ihn gesprochen und an ihn erinnert? Warum ging jeder seinen eigenen Weg der Trauer und nicht alle gemeinsam? Ich war ein Kind und konnte nicht verstehen, warum mein Bruder nie mehr wieder nach Hause kommt, warum er in der kalten Erde beerdigt wurde. In meiner Kinderseele hat das sehr tiefe Wunden hinterlassen. Niemand hat mir erklärt, dass er jetzt mein Schutzengel ist, aber manchmal überkommt mich das Gefühl, dass er gerade bei mir ist. Mit wem soll ich darüber reden? Die meisten Menschen würden mich wohl für verrückt halten.
Ich habe trauernde Menschen kennengelernt, die auf bemerkenswerte Weise gelernt haben, mit ihrem Schicksal zu leben, und die sich zum Teil sogar noch ehrenamtlich für andere Menschen einsetzen. Vor allem haben sie es geschafft, trotzdem glücklich zu sein, trotz der Trauer wieder zu lachen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Das hat mich ermutigt, an meiner eigenen Trauer zu arbeiten.
Vielleicht habe ich nicht die Hoffnung verloren, zu lernen, mit meiner Trauer umzugehen. Durch meine Trauer habe ich Verlustängste entwickelt, die es mir sehr schwer machen, Menschen gehen zu lassen.
Mit diesem Projekt habe ich den Mut gefunden, jetzt einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, indem ich den Schmerz und die Trauer zulasse, mir erlaube, weinen zu dürfen, und indem ich der Traurigkeit einen Raum gebe.
Mein Bruder war nicht der einzige Mensch, den ich verloren habe. Auch meine geliebte Oma verlor ich, als ich noch sehr jung war. Und immer wieder war da diese Leere, die nicht gefüllt werden konnte. Auch gab es keinen, der mit mir darüber sprach. Im Jahr 2006 verlor ich Karlheinz, einen sehr lieben Menschen, der immer für mich da gewesen war. Der Schmerz war unerträglich, und ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich dieser Verlust traf. Ich wollte auch diese Trauer überspielen, aber jetzt lerne ich, dass ich das nicht muss, dass ich diese Trauer ausleben darf, bevor ich an ihr zerbreche.
Ich werde die Trauer nicht übermalen, übergehen, sondern sie ausleben. Es ist sehr wichtig, mich mit der Trauer zu befassen und mich mit ihr auseinanderzusetzen. Es wird oft sehr weh tun, denn Trauer ist wie ein wogendes Meer. Es geht auf und ab, es wird Tiefs geben mit Tränen und Schmerz, und es wird Hochs geben mit Liebe und Dankbarkeit darüber, dass es die gemeinsame Zeit mit dem verstorbenen Menschen gegeben hat.
Die Zeit wird die Wunden nicht heilen, aber ich werde sie so verarzten, dass ich mit ihnen weiterleben kann. Jede Narbe wird mich an die Menschen erinnern, die ich verloren habe.
Ich hoffe, ich konnte Euch mit meinen Gedanken einen Einblick geben, warum ich an verstorbene Menschen erinnern möchte. Ich wünsche uns allen hier auf der Seite eine gemeinsame Zeit des Gedenkens, der Gedanken und Gefühle und vor allem, dass hier niemand mit seiner Trauer allein ist.
Ich bedanke mich fürs Lesen und verbleibe mit stillen Grüßen
AJ Pasko